Vaovao – Was gibt’s Neues auf Madagaskar? Ein Geschichtengeflecht?“

Drei Jahre Madagaskar, Beobachtungen, Bilder und Geschichten von Georg Jaster mit einem Nachwort von Gisela Hebrant

Leseproben

Wer oder Was ist eine Insel

Als ich in Deutschland lebte, war für mich Europa die Welt und Madagaskar eine ferne, exotische Insel. Nach einigen Monaten auf Madagaskar kehrte sich diese Wahrnehmung um. Plötzlich kam mir Europa vor, als sei es eine Insel auf diesem Globus, auf der eine relativ kleine Gruppe von Menschen es geschafft hat, sich eigenartige und privilegierte Lebensverhältnisse zu schaffen, die es sonst kaum irgendwo gibt. Im Gegensatz dazu ist Madagaskar zwar geographisch eine Insel, deren Bewohner teilen aber ihre großen und kleinen Probleme, ihre Lebensverhältnisse und ihre Alltagsfragen mit vielen Millionen, wenn nicht Milliarden anderer Menschen in Afrika, dem Großraum Indischer Ozean, Lateinamerika und Asien. Damit sind sie in einer sehr großen Gesellschaft. Nicht die Madagassen sind die Exoten, denke ich inzwischen, sondern wir sind das!

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Aus der Einleitung

In Antananarivo beginnen meine bewussten eigenen Erinnerungen. In Antananarivo begann meine Schulzeit. Es ist der Ort, an dem ich in den Jahren 1968-1970 gelebt habe. Das war von meinem sechsten bis achten Lebensjahr. Ich stellte mir immer vor, eines Tages an diesen Ort zurück zu kehren. Eigentlich nur aus Neugierde. In meiner kindlichen Erinnerung war es dort sehr schön gewesen. In dieser Erinnerung gab es ein weißes Haus mit einem großen Garten, davor eine kleine staubige Straße. Auf dieser Straße lernte ich Radfahren. Sie führte an unserem Haus vorbei und endete nach einigen hundert Metern in den Reisfeldern. 1970 kehrten wir nach Deutschland zurück, ich ging zur Schule, studierte, ergriff einen Beruf, gründete eine Familie, die Kindheitsjahre in Madagaskar verblassten in der Erinnerung und spielten in meinem Leben keine Rolle.

Dann, irgendwann im Laufe des Jahres 2012, entdeckte ich mehr oder weniger zufällig eine Stellenanzeige des CIM, des „Centrums für Internationale Migration und Entwicklung“. Es wurde ein Umweltjurist für einen Einsatz in Madagaskar gesucht. Ich bewarb mich und bekam die Stelle. Im September 2013 brachen wir auf. Wir, das waren Gisela, meine Lebensgefährtin, unsere damals 3 Jahre alten Zwillinge und ich. Und so fand ich mich wieder in der Stadt, die ich 43 Jahre zuvor verlassen hatte und von der ich so gut wie nichts wusste. Und die Stadt, das Land, die Welt waren eine vollkommen andere geworden.

 

Verkehr in Antananarivo

Besonders günstig zu mieten und daher besonders beliebt scheinen Taxis zu sein, bei denen keine Lampe mehr geht, bei denen die Räder kreuz und quer in alle Richtungen stehen und die bei jeder Bodenwelle und bei jedem Schlagloch beängstigende Geräusche von sich verbiegendem und verformendem Metall machen. Ich fuhr in Tana dennoch, oder gerade deswegen gerne Taxi. Es war immer spannend und ich bin zu meiner eigenen Überraschung auch immer am Ziel angekommen. Liebhaber berauschender Genüsse schätzen die Mischung aus leichtem Benzinnebel (Wasserflasche) von vorne und betörendem Abgasnebel (undichter Auspuff und undichte Kofferraumklappe) von hinten, die bei fast jeder Fahrt ohne Aufpreis mitgeliefert wird und die ihre Wirkung selten verfehlt.

Und ich wünschte mir, ich hätte einmal für eine Woche einen Düsseldorfer Taxifahrer mit einem seiner Kollegen aus Tana die Städte und die Fahrzeuge tauschen lassen können. Der Tana-Taxichauffeur würde sich in einem klimatisierten, neuwertigen Benz mit Navi und im wohlgeordneten Düsseldorfer Stadtverkehr sofort zurechtfinden. Er käme vermutlich schnell zu dem Schluss, dass das Leben doch der vielzitierte Ponyhof sein muss. Sein nach Tana versetzter Düsseldorfer Kollege hätte sicher deutlich mehr Mühe, mit den hiesigen Straßenverhältnissen und mit einem 40 Jahre alten Kleinwagen, der nach jeder Fahrt intensiver Wartung und Zuwendung bedarf, seine Kunden sicher und pünktlich von A nach B zu bringen.

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Kinder in Madagaskar

Einer der auffälligsten Unterschiede zwischen dem Alltagsleben in Deutschland und dem Leben in Madagaskar ist nämlich genau der, dass die Welt hier eine Welt von Kindern und von Jugendlichen ist, während sie bei uns eine Welt von Erwachsenen und zunehmend von alten Menschen ist. Statistisch gesehen ist etwa die Hälfte der Bevölkerung Madagaskars jünger als 18 Jahre. Die Frauen im gebärfähigen Alter haben praktisch immer ein oder mehrere Kinder an der Hand oder auf dem Rücken und/oder haben einen dicken, runden Bauch. Das Land sei im Übrigen dennoch weit davon entfernt, überbevölkert zu sein, sagen mir Landwirtschaftsexperten. Auf einer Fläche, die etwa der doppelten Größe Deutschlands entspricht, leben aktuell ca. 20 bis 25 Millionen Menschen, also nur ungefähr ein Viertel der deutschen Bevölkerung. Bevor all diese Menschen links und rechts von der Insel ins Meer purzeln und bevor sie, wie ihre Ur-urahnen aus Indonesien ihre Boote besteigen und auf Seereise gehen müssen, können also durchaus noch ein paar hinzukommen.

Kinder und junge Leute beherrschen das Straßenbild. Alles ist voller junger Menschen. Während in deutschen Städten die wenigen Kinder außer zu Schulbeginn und zu Schulschluss kaum draußen und auf den Straßen zu sehen sind, da sie eng getaktet vom frühkindlichen Ballettunterricht zum Kurs in vorschulischer Relativitätstheorie und von dort zum Seminar für spielerische Computerkunde eilen müssen, wachsen die Kinder der einfachen Leute in Madagaskar neben den Marktständen, Mofawerkstätten oder Friseurbuden ihrer Eltern am Straßenrand auf. Dort vertreiben sie sich die Zeit, indem sie den Eltern helfen, oder indem sie mit den Dingen, die sie so finden, Spielzeuge basteln und mit den anderen Kindern herumtollen. Das ist sicher weit davon entfernt ideal zu sein, aber dabei üben sie immerhin Verantwortung für einander zu übernehmen, denn die Großen passen ganz selbstverständlich auf die Kleinen auf. Es liegt mir fern, Armut zu romantisieren oder das Problem der Überbevölkerung zu bagatellisieren. Ich möchte nur einen Alltagseindruck wiedergeben. Man erlebt im Alltag ja nicht ein weltpolitisches Problem, sondern man erlebt einfach viele Kinder, Jugendliche und Schwangere. Und das ist kein trauriger, sondern eher ein heiterer Anblick.

Kinder haben die Gabe, ihr jeweiliges persönliches Leben ganz normal zu finden und mit ihrem Dasein zufrieden zu sein, so lange sie genug zu essen und solange sie die Zuneigung ihrer Eltern und Geschwister bekommen. Und so finden die madagassischen kleinen Kinder nichts merkwürdig oder unpassend an ihrem Leben. Sie sind vergnügt, wie alle Kinder dieser Welt es die meiste Zeit sind, und spielen in ihren schmutzigen, zerlumpten Kleidern mit alten Autoreifen, Margarinedosen und Plastikflaschen, die sie aus dem Müll gefischt haben. Diese Kinder finden ihr Leben „normal“, wissen nichts von Luxusheimen, verfolgen nicht die Armutsstatistik der Weltbank, auf der ihr Land immer weiter abrutscht, und verbreiten einfach eine typische Kinderfröhlichkeit.

Ich spreche hier nicht von den Bettelkindern, denn denen fehlen genau die zum Kinderglück notwendige Zuneigung und das tägliche Essen. Die Bettelkinder sind ein sehr trauriger Anblick und eine Schande für dieses an sich reiche Land. Ich spreche hier von den Kindern aus den „normalen“ und „intakten“ Familien am unteren Ende der sozialen Leiter, die die große Mehrheit der Kinder auf den Straßen bilden.

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Machtwechsel auf Madagassisch

Die deutsche Botschaft empfahl, Ruhe zu bewahren, und erklärte, es gäbe keinen Anlass zur Panik. Ich dachte mir, so etwas sagen auch Flugkapitäne, wenn ein Motor brennt oder wenn die Tragfläche beginnt, sich vom Rumpf zu lösen.

Die Botschaft empfahl weiter, man sollte sich, nur aus reiner Vorsicht natürlich, mit Lebensmitteln und Trinkwasser für zwei Wochen, außerdem mit Batterien, Taschenlampen, den notwendigsten Medikamenten und Verbandszeug ausrüsten. Und man sollte einfach ein paar Tage zuhause bleiben. Das sei ja auch mal ganz schön.

Wir beherzigten die Empfehlungen der Botschaft und blieben den Samstag zuhause. Über das Radio erfuhren wir dann, dass einige Tage zuvor in einer Kaserne in der Nähe des Flughafens 4000 Schuss Kalaschnikow-Munition verschwunden wären. Na großartig, dachte ich. Das war genau die Art von Nachricht, die ich hören wollte. Ich studierte die madagassische Geschichte und fand heraus, dass es in Madagaskar seit der Unabhängigkeit 1960 noch keinen einzigen friedlichen Regierungswechsel gegeben hatte. Die Amtskette des Präsidenten, die eigentlich immer weitergegeben werden sollte, war noch nie von einem scheidenden Präsidenten an seinen Nachfolger überreicht worden. Der staatliche Hofjuwelier musste jedes Mal eine neue Kette fertigen. Vielleicht steckte er hinter all dem Tohuwabohu. Bei jedem Machwechsel gab es bisher Straßenkämpfe, wochen- oder monatelange Streiks, einige Male auch Tote und Verletzte. Ich dachte an die 4000 Schuss Kalaschnikow-Munition und wartete sorgenvoll darauf, dass das Chaos ausbrechen würde.

Ich bin kein Held und kein Abenteurer, dachte ich so bei mir, und ich habe keinerlei persönliche Erfahrung mit gewaltsamen Auseinandersetzungen dieser Art. Ich habe nie eine bedrohliche politische Krise aus der Nähe erlebt. Ich gehöre zu der Generation der westdeutschen Kriegsdienstverweigerer und Pazifisten. Die Welt mag sich über uns lustig machen, aber wir hatten nun einmal das historische Glück, zwar eine Revolution und eine dramatische politische Umwälzung in Europa erleben zu dürfen, aber anders als sonst bei uns so üblich gab es keine Gewalt und kein Blutvergießen, sondern die historische Umwälzung, die meine Generation erleben durfte, war eine Art Happening mit bunten Trabbis und fröhlichen Menschen, die durch die Breschen in der Berliner Mauer kamen. Ich bin Wessi. Ich wurde nie vom polnischen Geheimdienst, von der DDR-Stasi oder von sonst irgendwem verfolgt.

Texte Georg Jaster

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